[Freitag, 23. April 2004]

ORTSTERMIN

Wir sind zum ersten Mal in Bremen, um uns die Grohner Düne anzusehen. Als Florian seine Kamera auspackt, wollen sofort sämtliche Kinder, die auf dem Spielplatz sind, fotografiert werden. Ganz klein im Hintergrund ist Herr Bredehorn zu sehen, einer der Wachmänner der Grohner Dühne. Er führt uns an dem Tag durch die gesamte Anlage. Die meiste Zeit sitzt er in der Pförtnerloge und beobachtet auf einem Schwarz-Weiß-Monitor die Bilder der Überwachungskameras. "Was er macht, wenn abends nach Hause kommt, fragen wir ihn. "Bestimmt nicht Fernsehen."

Kolja Mensing

[Dienstag, 20. Juli 2004]

LETZTE ZWEIFEL

Florians Berliner Wohnung befindet sich in einem dezenten Neubau aus den Neunzigerjahren, mehr oder weniger neben dem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit und damit nicht weit von dem so genannten Regierungsviertel entfernt. Als wir uns treffen, um die letzten Vorbereitungen für unseren Aufenthalt in der Grohner Düne zu treffen, sehen wir uns vom Balkon die Skyline mit dem neuen Lehrter Bahnhof, dem DB-Hochhaus und dem Sony Center an.

Während mit der Dämmerung ein beeindruckendes Gewitter heranzieht, überlegen wir mit Blick auf unsere neue Wahlheimat, ob vielleicht auch diese Wohnlage am Rand von Berlin-Mitte irgendwann nicht mehr ganz so attraktiv sein wird wie heute. Schließlich war die Grohner Düne genau wie viele andere Großsiedlungen Anfang der Siebzigerjahre einmal ein begehrtes Ziel für die aufstrebenden Mittelschichten - und damals hat es noch nicht einmal zehn Jahre gedauert bis aus dem Paradies für junge Familien ein am Stadtrand gelegenes Zwischenlager für Asylbewerber, Gastarbeiter und Sozialverlierer mit deutschem Pass wurde. Die desillusionierten Erstbewohner hatten sich inzwischen in ihre Einfamilienhäuser im Umland zurückgezogen.

Für einen kurzen Moment haben wir Zweifel, ob wir mit unserer Exkursion nach Bremen-Nord nicht einen Umweg machen und lieber gleich in Berlin bleiben sollten. Auch die Mitte hat einen Rand. Und Bausparen ist immer noch cool.

Kolja Mensing

[Mittwoch, 28. Juli 2004]

ES GIBT KEIN ZURÜCK

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Im Weserkurier erschien heute der erste Bericht über unser Projekt: "Mensing und Thalhofer wollen den gesamten August in der Düne verbringen", schreibt die Redakteurin Patricia Brandt, die sich während des Interviews am Telefon eher skeptisch zeigte: "Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so einfach wird..." Auch Norbert Lorenz von Radio Bremen fand unsere Idee ziemlich abenteuerlich: "Ich wünsche viel Spaß!"

Kolja Mensing

[Freitag, 30. Juli 2004]

AURORO AUS HOCHHAUS 7

Hochhausprosa steht nicht unbedingt hoch im Kurs. In den Neunzigerjahren haben zwar einige jüngere ostdeutsche Schriftsteller über ihre Kindheit im Plattenbau geschrieben, in Westdeutschland ist das allerdings kein Thema. Jan Böttcher, der in Lüneburg aufgewachsen ist und mittlerweile in Berlin lebt, hat einen der wenigen Romane über Aufwachsen in einer Großwohnsiedlung der Neuen Heimat (die auch die Grohner Düne gebaut hat) geschrieben: "Lina oder: das kalte Moor", erschienen bei kookbooks. Ich habe es für die eDIT rezensiert, hier ist der Text nachzulesen.

Meinen letzten Hochhaus-Roman hatte ich vor 25 Jahren gelesen: "Aurora aus Hochhaus 7", ein Kinderbuch der englischen Autorin Anne-Cathrine Vestly. Es stammt aus den frühen Siebzigerjahren, als man noch an die Utopie vom "verdichteten Wohnen" glaubte, und ist inzwischen offenbar vergriffen.

Kolja Mensing

[Sonntag, 1. August 2004]

ANKUNFT IM 13.STOCK

Wir lassen Berlin hinter uns. Am späten Sonntag nachmittag fahren wir Richtung Westen, in den Sonnenuntergang. Die letzten DDR-Plattenbauten sehen wir, als wir auf der A2 an Magdeburg vorbeifahren, dann nur noch Fichtenwälder, die entlang der Autobahn aufgeforstet wurden. Als wir in Bremen ankommen, ist es dunkel. Auf dem Innenhof der Grohner Düne sitzen ein paar Teenager auf den Bänken, eine türkische Familie - Vater, Mutter, drei Kinder - zieht einen Handwagen voll mit Gerümpel zum Müllplatz neben dem Eingang zur Tiefgarage. Ein älterer Mann untersucht interessiert sich für einen leeren Wasserkanister.

In der Wohnung gehen wir als erstes auf den Balkon. Entlang der Brüstung sind dichte, schwarze Netze gespannt. "Silvester ist es das letzte Mal passiert", hatte Herr Bredehorn uns bei der Ortsbegehung vor einigen Wochen erzählt: "Hier versucht immer wieder jemand, sich vom Balkon zu stürzen."

Kolja Mensing

[Montag, 2. August 2004]

ÜBER VEGESACK

Der erste Tag über Bremen-Vegesack. Technische Schwierigkeiten halten uns davon ab, die Aussicht zu genießen. Wir verkabeln unsere Computer und verbrennen Stunden bei dem Versuch, Macintosh und PC dazu zu bekommen, miteinander zu reden. Und wenn man dann doch einen Blick in die Ferne wirft, sind da immer diese merkwürdigen Netze vor den Fenstern. Am späten Nachmittag kommt eine junge Frau vom "Weser Report". Um uns zu interviewen. Wir wissen nicht, was der "Weser Report" ist. "Das größte Anzeigenblatt in der Region." Aha. Die Netze sind wegen den Tauben da, vermutet die Reporterin. "Weil wenn sich jemand umbringen wollte, der könnte sie ja ganz leicht durchschneiden."

Florian Thalhofer

[Dienstag, 3. August 2004]

24H

Und dann fällt mir ein, dass ich es schon wieder vergessen habe. Trotz der roten Schilder, die überall hängen. "ZU IHRER SICHERHEIT WIRD DIESE WOHNANLAGE DURCH VIDEO-KAMERAS 24H ÜBERWACHT." Und dass jetzt, mitten in der Nacht, als ich in den Lift gestiegen bin, beim Wachdienst der Monitor umgesprungen ist. Bewegungsmeldergesteuert. Auf mich. Ich dachte ich bin alleine mit meinem Spiegelbild. Verstolen winke ich in Richtung Kamera. Herr Bredehorn hat heute abend Dienst.

Florian Thalhofer

INS HERZ

„Es gibt zu viele von ihnen“, sagt Rasim Özgüvenç, als ich ihn frage, was er genau gegen die Albaner hat: „Und sie machen Dreck.“ Herr Özgüvenç gehört der An-und-Verkauf-Laden „Aladin“ an der Vorderseite der Grohner Düne. Seit zwölf Jahren verkauft er Waschmaschinen und Hifi-Anlagen, Taschenrechner und Laserpointer. Tische und Stühle in unserer Wohnung stammen ebenfalls aus seinem Geschäft, ein Verlängerungskabel für das Telefon hat er auch vorrätig: „Markenware sechs Euro fünzig, aus Taiwan fünf Euro.“  Die Düne sei in den letzten zwei, drei Jahren sehr viel ruhiger geworden, findet er. Dumm nur, dass jetzt die Albaner kommen. Albaner? - „Kosovo-Zigeuner.“ Herr Özgüvenç hat es sogar nachgezählt,  vier oder fünf Familien in jedem Block, und alle fahren dicke Autos: „Der deutsche Staat macht einen Fehler. Die Sozialhilfe für diese Menschen ist viel zu hoch. Ich zahle Steuern. Mir gibt niemand Geld.“

Am Nachmittag spricht uns dann eine Frau im Fahrstuhl an. Ob wir die Männer seien, die die Fotos machen? – Jadranka Adzovic ist mit ihrer Familie aus Montenegro gekommen. Mit lauter Stimme erzählt sie uns im Hof, dass ihre Tochter auf dem Spielplatz der Düne verprügelt worden ist, weil sie Albanerin ist. „Ich bin Albanerin. Na, und? Albaner sind gute Menschen.“ Sie will sich die Demütigungen und Anfeindungen nicht länger gefallen lassen: „Albaner sind tapfere Menschen. Wir haben den Krieg überstanden.“ Zornig zeigt Frau Adzovic sich auf die Brust, und ruft: „Ein Messer ins Herz, direkt ins Herz.“ Ihr Deutsch ist schlecht. Wir verstehen nicht, ob sie im übertragenen Sinne über die Wunden spricht, die ihr und ihrer Familie in diesem Land bereits zugefügt worden sind – oder ob sie ihre neuen Nachbarn am liebsten ermorden würde.

Kolja Mensing

[Mittwoch, 4. August 2004]

BAUSPARVERTRÄGE



„Sparen Sie nicht“, sagt Ingrid Galla zu uns, kurz bevor wir die Videokamera abschalten: „Am besten geben Sie Ihr ganzes Geld einfach aus.“ – Ingrid Galla wohnt seit 1971 in der Grohner Düne. Sie hat lange ausgeharrt, aber jetzt muss sie ausziehen. 1000 Euro Rente bekommt ihr Mann, der nebenan in der Vulkan-Werft gearbeitet hat, 400 Euro werden es bei ihr sein, wenn sie demnächst nicht mehr in der Küche vom Kindergarten arbeitet. Die gut 700 Euro Miete für die Wohnung im 10. Stock können sie sich dann nicht mehr leisten. Sozialwohnungen sind teuer, wenn sie nicht vom Sozialamt bezahlt werden. „Wer arbeitet, wird bestraft“, sagt Ingrid Galler. – Und wenn sie sich einfach hier eine kleinere Wohnung sucht? – Zwei Zimmer sind in der Grohner Düne nur noch schwer zu bekommen: „Zu viele Singles. Heutzutage heiratet ja niemand mehr.“ Vor vierzig Jahren war das anders. „Als das Kind unterwegs war, war klar, dass wir heiraten.“ Damals ist sie achtzehn. Ihren Mann hat sie 1964 beim Tanz in den Mai kennen gelernt: „Es war das erste Mal, dass ich am Abend ausgehen durfte.“ Dann ist sie schwanger. – Sofort? – „Eineinhalb Jahre später.“ Sie heiraten und wohnen zuerst in einer kleinen Dachgeschosswohnung, mit dem Klo auf halber Treppe. Als die Grohner Düne auf dem ehemaligen Geländer einer Steingut-Fabrik errichtet wird, gehören sie zu den ersten Mietern. Es gefällt ihnen, doch die Nachbarn, die mit ihnen eingezogen sind, bauen nach und nach ihre eigene Häuser. Auch die Gallas haben einen Bausparvertrag, aber dann bleiben sie mit ihren drei Kindern doch im 10. Stock: „Ich bin dickköpfig.“ Also haben sie für später gespart, für die Zeit nach der Rente: „Wir wollten immer eine Kreuzfahrt machen.“ Es sieht nicht so aus, als ob daraus demnächst etwas wird: „Jetzt müssen wir erst einmal umziehen. Umziehen ist teuer.“

Kolja Mensing

ORDENTLICHE LEUTE

Vor kurzem hat es eine Schlägerei gegeben. Im Shopping-Center. Da haben ein paar Männer aus der Grohner Düne den Security-Leuten vom Einkaufszentrum geholfen, die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Der Wachmann vom Shopping-Center mag die Leute aus der Grohner Düne. Es gibt andere, die hier Probleme machen. Pöbelnde Neonazis zum Beispiel. Aber die wohnen nicht in der Düne. Die Leute aus den Wohnblöcken, die wollen nur ihre Ruhe. Die wollen nicht, dass die Polizei immer zuerst zu ihnen kommt. Ordentliche Leute sind das, sagt der Wachmann.

Früher war das alles ganz schlimm, sagt der Wachmann vom Einkaufszentrum. Wegen den Drogen und so. Aber seit die da die vielen Videoüberwachungskameras haben, hat sich vieles geändert. Bloss dass jetzt die Kids aus der Düne zum Einkaufszentrum kommen, um ihre Graffity-Tags an die Wände zu machen. Weil wir haben hier micht so eine tolle Videoüberwachungsanlage. Der Wachmann grinst. "Und die Kids sind ja nicht doof."

Florian Thalhofer

[DONNERSTAG, 5. AUGUST 2004]

EIN GENTLEMAN

Beinahe hätte sie es ihm gesagt. Dass es nicht darauf ankommt, wie viele es wirklich waren. Sie hatte neben ihm am Bett gesessen, und gesagt: „Sechs Millionen Juden. Sechs Millionen.“ Aber er hatte verächtlich gelacht und mit abgewinkt. „Es waren höchstens zwei Millionen.“ Natürlich hätte sie ihm ins Gewissen geredet, wenn er nicht krank gewesen wäre. Aber ihr Schwiegervater hatte Krebs. Vor einigen Monaten, als klar war, dass er nicht wieder gesund werden würde, hatten sie und ihr Mann ihn zu sich in ihre kleine Wohnung in der Hochhaussiedlung geholt. Er bekam das ehemalige Zimmer des Sohnes. Sie wusste, dass ihr Schwiegervater in der Waffen-SS gewesen war, aber sie hatte es immer vermieden, über die alten Zeiten zu sprechen, und jetzt, als er abgemagert und todkrank im Bett lag und alles, was damals passiert war, mit einer schwachen Handbewegung beiseite wischte, schwieg sie weiterhin. Erst als sie ihm ein paar Tage später erzählte, dass sein Bruder ins Krankenhaus gekommen sei und es ihm sehr schlecht ginge, platzte ihr der Kragen. „Mir geht es auch schlecht“, hatte er nur gesagt, und daraufhin hatte sie ihn angefahren, dass es so nicht gehe. „Das wissen wir, Vati, und das tut uns allen sehr Leid. Aber er ist dein Bruder. Dein eigener Bruder.“ Er hatte ihr nichts darauf geantwortet, sondern sich nur mit versteinertem Gesicht in seinem Bett umgedreht. Erst am Abend rief er sie in sein Zimmer. Er ließ sie eintreten, und dann entschuldigte er sich bei ihr. „Du hast recht“, sagte er, „und ich hatte unrecht.“ Bei der Beerdigung, die schon wenig später statt fand, erzählte sie allen, dass ihr Schwiegervater ein guter Mensch gewesen war. Er hatte einen Fehler gemacht, und er hatte sich dafür entschuldigt. Sicher, er hatte auch andere Fehler gemacht, aber es kam nicht darauf an, wie viele es waren. „Er war ein Gentleman. Ein richtiger Gentleman.“

Kolja Mensing

[Freitag, 6. August 2004]

Gott ist ein Mensch



Natürlich hat Jadranka sich gewundert, als die beiden jungen Amerikaner eines Tages vor ihrer Tür standen. Sie trugen Anzugshosen, weiße Hemden und dunkelblaue Pullover, und als sie höflich fragten, ob sie mit ihr über Ihren Glauben sprechen dürften hat sie sie hereingebeten. Die beiden sprachen gutes Deutsch, sehr viel besser als ihr eigenes. Jadranka war 1987 aus Montenegro nach Deutschland gekommen. Mit dem Vater ihrer Kinder hatte sie serbisch gesprochen, bei der Arbeit, die sie schließlich fand, war wenig Zeit für Gespräche. Vielleicht hat sie nicht jedes Wort von dem verstanden, was die jungen Männer ihr erzählten, aber sie hat sich trotzdem gerne mit ihnen unterhalten. „Kommen Sie wieder“, hat sie damals zu ihnen gesagt, und ein paar Tage später waren die beiden wieder da. Jadranka freute sich. Sie brachten ein in Leder gebundenes Buch mit, dass wie die Bibel aussah, die ihre Eltern besessen hatte. Jadranka war katholisch, und in ihrem Wohnzimmer hatte sie im Regal ein kleines Bild der Jungfrau Maria neben die Fotos von ihre Familie aufgebaut. Ihre Besucher beachteten es nicht, aber sie schienen sich auch nicht daran zu stören, dass ihre Kinder ein gerahmtes Foto von einer Popsängerin dazu gestellt hatten. „Bleiben Sie zum Essen“, sagte sie, als die beiden gehen wollten. „Ich koche etwas Jugoslawisches.“ Von da an kamen sie zwei- oder dreimal die Woche. Sie unterhielten sich mit Jadranka, erkundigten sich nach ihrem Mann, von dem sie sich vor einigen Jahren getrennt hatte, und fragten nach ihrer Arbeit in einer Großküche. „Gott ist ein Mensch“, sagten sie, und spielten im Hof Basketball mit Jadrankas Sohn und brachten ihrer Tochter ein paar englische Worte bei. „Irgendwann müsst ihr uns in Amerika besuchen.“ Eines abends, als Jadranka von der Arbeit kam, lag eine Schachtel amerikanischer Schokoladenkekse vor ihrer Tür, zusammen mit einem Briefumschlag. „Wir wollten uns verabschieden“, stand darin, aber eine Adresse hatten die Amerikaner nicht hinterlassen. Damals hatte Jadranka überall in der Siedlung herumgefragt, ob jemand die jungen Männer gekannt hatte. Ihre Nachbarn hatten nur mit dem Kopf geschüttelt. „Vielleicht waren
es Mormonen“, sagte eine der Frauen aus dem Block gegenüber, als Jadranka die gepflegte Kleidung der Amerikaner lobt und ihr erzählte, dass sie mit ihr über Gott gesprochen hätten. „Mormonen“, wiederholte Jadranka, „das kann sein.“ Zuhause legte sie die Schachtel mit den Keksen neben das Bild von der Jungfrau Maria. Von ihren beiden Freunden hörte sie nie wieder etwas.

Kolja Mensing

[Samstag, 7. August 2004]

GANGSTERS



Da hatte also vor mir schon jemand die gleiche Idee. Auf der Straße liegen jede Menge Papierflieger. Der Experte kann drei verschiedene Typen ausmachen. "Pfeile", "Square Dancer" und eine "Square Dancer"-Variation, die ein wenig an einen "Higby" erinnert. Ich bin Experte. In einem meiner Berufe arbeite ich in der Nachrichtenredaktion eines Fernsehsenders in Berlin. Wenn nichts in der Welt passiert, verarbeite ich alte Sendabläufe zu Flugzeugen. Alte Sendeabläufe stapeln sich überall in der Redaktion. Im siebten Stock des Senders gibt es eine Dachterasse. "Betreten verboten".
Der mutige Ingenieur scheut keine Gefahren und bis der Wachmann kommt bin ich schon längst wieder in die Redaktion getürmt.
Ich sammle die Papier-Flugzeuge vor der Grohner Düne, um sie einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. Vorsichtig falte ich einen der Papier-Flieger auseinander. Er ist relativ unpräziese gefaltet. Ein Computer-Ausdruck, ganz so wie die Computer-Ausdrucke, die ich zum Bau meiner eigenen Flugzeuge verwende.

"Ein Lagerhaus faßt bis zu 300 Kisten Alkohol oder Helergut dazu weitere Kisten voll Falschgeld." steht da zu lesen. Ich überfliege die Zeilen "Halten Sie möglichst immer ein paar Jungs in der Hinterhand für den Fall, daß es mal Probleme mit der Sicherheit gibt."

Ich wähne mich einem einem Verbrechen auf der Spur.

"Filme kannst du im 7.Stock kaufen." ... "Werbung gibt es bei der Werbeagentur im 11.Stock. Bei der Auswahl mußt du folgende Dinge beachten:
a) Wieviel Prozent/Mio bringen meine Filme
b) Wie hoch ist die Prämie
c) Sind Bedingungen gesetzt wie "Bitte keine Lovestory" oder derartiges

Die Lösung des Rätsels findet sich in Form eines "Square Dancers". Nach dem Auseinanderfalten steht da folgendes:

"GANGSTERS - DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN
Version 1.5
Readme-datei
18.08.99
"Vielen Dank, daß Sie GANGSTERS - DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN gekauft haben. Dieses Dokument enthält die aktuellen Informationen über GANGSTERS, sowie allgemeine Fragen, die sie zum Spiel oder ihrem Computer haben könnten..."

Also doch keine internen Schreiben einer Mafia-Organisation. Ein wenig entäuscht falte ich eine weiteren "Square Dancer" auseinander. Er enthält einen Orakelspruch:

"Die Sendung "Kultur-Heute" muß bestellt werden, und man hat dann drei Tage, um sie zu senden. Nach den drei Tagen, oder wenn man sie gesendet hat, verschwindet sie wieder. Da sich niemand diese Sendung anguckt (s.o.), ist sie nicht für Kultur-Sammys geeignet. Allerdings erhöht sie die Betty-Skala beträchtlich. Man kann sie mit 10 Sendungen voll bekommen."

Florian Thalhofer

[Sonntag, 8. August 2004]

18



Seit drei Tagen gibt es Pizza. "Das ist wirklich nicht nötig!" haben wir gesagt. "Ach was, das mache ich doch gerne," sagte Frau Witt. Frau Witt ist bei den Zeugen Jehovas. Sie will die Welt eine bessere machen. "Kommen Sie einfach heute abend vorbei, ich gebe Ihnen die Pizza dann mit."
Und darum ist Kolja an diesem Tag ein zweites Mal zu Frau Witt gegangen und mit einer Plastiktüte zurückgekommen. Achtzehn, in Aluminiumfolie eingepackte, rechteckige Pizzastücke. "Zum einfrieren", hat Frau Witt gesagt.
So gibt es nun zweimal täglich Pizza im 13. Stock. Stück für Stück essen wir alles brav auf. Der liebe Gott zählt mit.

Florian Thalhofer

[Montag, 9. August 2004]

AUF WIEDERHÖREN

„Das ist ein widerlicher Bau“, sagte der anonyme Anrufer, der gerade in der Zeitung von unserem Projekt gelesen hatte: „Ich wohne hier schon seit 15 Jahren. Die Grohner Düne ist eine Hochburg der Kriminalität.“
anonymerAnruf.mp3

WIND

Le Corbusier soll bemerkt haben, dass es bei einem Bauwerk auf die „psychische Lüftung" ankäme. Le Corbusier kennt jeder, an den Namen des Architekten, der die Grohner Düne vor 35 Jahren im Auftrag der Neuen Heimat geplant hat, kann sich heute niemand mehr erinnern. Offenbar hat er sich aber die Forderung seines berühmten französischen Kollegen zu Herzen genommen und mit viel planerischer Raffinesse für Durchzug gesorgt. Die Hochhäuser der Siedlung, die zur Weser hin unterschiedlich steil ansteigen und nur an der Nordseite eine größere Öffnung haben, bilden nämlich eine Art Trichter, in dem sich der Wind fängt. Frau Galla hatte uns vergangene Woche darauf aufmerksam gemacht, dass im Innenhof der Grohner Düne immer eine leichte Brise weht, und tatsächlich: Selbst jetzt, bei Windstille und knapp 30 Grad im Schatten, wirbelt der Luftzug im Innenhof den Sand auf. Auch in den Wohnungen herrschen wegen der gegenüberliegenden Fenstern die besten Bedingungen für plötzliche, orkanartige Windstöße. Türen schlagen, Papier, Zigarettenschachteln und leere Plastikflaschen werden von den Tischen gefegt, und zuletzt bläst es einem die Gedanken aus dem Kopf. Und dann ist alles leer.

Kolja Mensing

[Dienstag, 10. August 2004]

GANGSTA RAP



Früher muss es schlimm gewesen sein in der Grohner Düne. Niemand kann sagen, wann es genau angefangen hat, aber jeder kommt irgendwann auf diese Zeit zu sprechen, selbst die, die damals noch gar nicht hier gelebt haben. Messerstecherei, Junkies, die überall ihre Spritzen liegen ließen, kriminelle Großfamilien, die ihre Kinder auf Raubzüge in die Geschäfte von Vegesack schickten. Keine schönen Geschichten, immerhin war etwas los. Die kurdischen Mädchen, mit denen wir uns vor einigen Tagen abends auf dem Hof unterhalten haben, schwärmen von den brennenden Mülltonnen, die regelmäßig für Aufregung sorgten, und Sakir, der jedem die Narben zeigt, die er sich bei der einen oder anderen Schlägerei zugezogen hat, erzählt von seinen älteren Brüdern und Cousins, die die Heroinsüchtigen mit Baseballschlägern aus den Kellerräumen und Hausfluren vertrieben haben. Bevor er uns auf den Steinstufen am Bahnhofsplatz den Kleinen mit der geklauten Rolex und ein paar andere Jungs mit kleinkriminellen Ambitionen vorstellt, besteht er darauf, dass wir ihn fotografieren. Zusammen mit Adel, der eigentlich in einem Reihenhaus wohnt, aber in HipHop macht und immer mal wieder in der Grohner Düne vorbeischaut, posiert er vor den Hochhäusern im gebrochenen Licht des späten Nachmittags als Gangster. - Erstaunlich ist eigentlich nur, dass auch die CDU hier in Vegesack den Ghetto-Mythos der Grohner Düne für ihre eigenen Zwecke zu nutzen weiß. Nachdem der Bremer Innensenat vor kurzem beschlossen hatte, das örtliche Polizeirevier in den Nachtstunden zu schließen, um den Landeshaushalt zu entlasten, fürchtete der Ortsverband, dass Vegesack damit im Vergleich zu anderen Ortsteilen im Norden der Stadt an Bedeutung verlieren würde. Also wies man in einer Presserklärung stolz darauf hin, dass sich mit der Grohner Düne immerhin ein „sozialer Brennpunkt mitten in Vegesack“ befände, und forderte weiterhin polizeiliche Betreuung rund um die Uhr. Silvia Neumeyer, die kämpferische Vorsitzende der CDU Vegesack, erzählte uns, dass sie trotz allem auch in der Nacht alleine über das Gelände Grohner Düne spazieren würde. Außerdem wohnte vor zwanzig Jahren eine Cousine von ihr dem Block an der Bydolekstraße Nr. 3, und „damals war das eines der besseren Häuser hier“.

Kolja Mensing

GRENZE MUSS SEIN


grenze.mov

220kg

Der Mann hatte ein Problem. Das Problem stand in Form von meinem Motorrad, sagen wir mal, in der Nähe von seinem blauen Ford Fiesta. Ich würde sagen, aus der Parklücke wäre ich einarmig und singend mit einem 7,5-Tonner rausgekommen. Rein theoretisch, die Tiefgarage ist gar nicht hoch genug für einen 7,5-Tonner.

Der Mann ist 72. Mein Motorrad wiegt 220kg. Der Wachmann hat gesagt, dass der Mann nachts zu ihm gekommen ist, und gesagt hat, dass in der Tiefgarage ein Motorrad liegt. Ich weiss nicht, was passiert wäre, wenn ich mein Motorrad am Boden liegend gefunden hätte. Wahrscheinlich hätte ich geheult. Der Wachmann hat das Motorrad dann wieder hochgewuchtet und auf einen anderen Platz gestellt. Jetzt hat es eine Beute im Tank, und der linke Blinker hängt ganz traurig herab.

Vielleicht ist der Mann mit dem blauen Ford Fiesta in einem cholerischen Anfall auf mein Motorrad losgegangen und dann ist ihm aufgefallen, dass er ja der einzige ist, der ein Motiv hat es umzuwerfen. Aber vielleicht hat der Mann es wirklich nur gefunden, und das Motorrad ist ganz von alleine umgefallen. Wegen einem Erdbeben oder so. "Ich nix weiss nix", wie Herr Özgüvenç von "Aladin - Transport und Umzüge alle Art" in dieser Situation sagen würde. - Ist vielleicht auch gut so.

Florian Thalhofer

[Mittwoch, 11. August 2004]

MAN MACHT ALLES

(Um den Film anzusehen auf das Bild klicken)

HIER

Das hier ist nicht meine Geschichte. Ich bin in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern aufgewachsen, mit Car-Ports, gepflegten Vorgärten und Terrassen, auf denen man im Sommer Erdbeerkuchen isst und Eistee trinkt. Ich kenne niemanden, der an einer Messerstecherei beteiligt war. Ich kenne niemanden, der von einer Schlägerei eine Narbe behalten hat. In meiner Schule gab es keine Ausländer, sondern nur Austauschschüler, und lange Jahre habe ich mir Arbeitslosen wie Aussätzige vorgestellt. Jetzt bin ich hier. Das hier ist nicht meine Welt. In der Grohner Düne hat jeder Vierte keine Arbeit, unter den ausländischen Bewohnern sind es fast die Hälfte. Ein junger Mann, der hier bei uns im Hochhaus neben uns wohnt, hat mir im Fahrstuhl erzählt, dass er schon seit Jahren auf eine Umschulung wartet. Vielleicht hätte er mir noch mehr davon erzählt, aber ich habe Angst, mich länger darüber mit ihm zu unterhalten, weil er braune Zähne hat und alle paar Tage mit einem leicht verstörten Gesichtsausdruck vor unserer Tür steht. Ich weiß nicht, was er von mir will. In dem Mietshaus, in dem ich in Berlin lebe, klingelt man nur dann an einer anderen Tür, wenn einer der Nachbarn ein Paket angenommen hat. Ich habe auch keine Ahnung, was ich Gökan, Bilail und die anderen Jungs fragen sollen, die jeden Abend ab neun oder zehn Uhr auf den Stufen am Bahnhofsvorplatz sitzen. Ich frage trotzdem, und ich stelle die falschen Fragen. „Welche Ziele hast du?“ – „Ziele?“, fragt Tarik zurück, der dreißig ist, vier Kinder hat und während des ganzen Interviews kein einziges Mal gelächelt hat: „Ich habe keine Ziele. Mich kannst du knicken.“ Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, und bis vor kurzem hätte ich gesagt, dass ich jede Menge Ziele habe. Im Moment bin ich mir nicht so sicher. Ich bin in der Grohner Düne.

Florian Thalhofer

Regeln

Ein jeder legt sich seine Welt so zurecht, wie es ihm passt. Frau Witt ist bei den Zeugen Jehovas. Wenn sie spricht, endet jeder fünfte Satz auf einem Bibelzitat. Sie verwebt die großen Geschichten aus der Bibel mit ihren eigenen, kleinen.

Wenn ein Gestalter ein Layout für eine Seite entwirft, fängt er damit an, ein Raster anzulegen. So habe ich es an der Kunsthochschule gelernt. Das Raster sind Hilfslinien, an denen er die Bilder und Texte ausrichten kann. Solche Raster können erstaunlich komplex werden, und jeder Typograf spricht gerne über sein Raster und was er sich dabei gedacht hat, als er es angelegte. In der fertig gestalteten Seite kann man von dem Raster meist gar nichts mehr erkennen.

Ich habe lange überlegt, woher das Raster kommt. Es ist ganz einfach: Das Raster ist nur da, um die Möglichkeiten zu begrenzen. Wenn ein Designer vor einem leeren Blatt sitzt, sind die unendlichen Möglichkeiten, wie sich dieses Blatt gestalten lässt, furchteinflössend. Er weiß ganz einfach nicht, wo er anfangen soll. Also fängt er an, indem er Grenzen zieht. Die Grenzen schaffen einen überschaubaren Raum, innerhalb dessen es möglich wird zu gestalten.

Mit anderen Worten: Wenn man Fussball spielen will, braucht man als erstes ein Spielfeld. Man braucht ein Spielfeld, und man braucht ein paar Regeln. Wenn 22 junge Männer auf einem Stück Rasen stehen, wissen sie solange nicht was, sie tun sollen, bis sie das Stück Rasen als Fussballfeld begreifen. Dann geht der Spass los.

Religion ist auch nur so ein Regelwerk.

Florian Thalhofer

BLUT

Natürlich gibt es in der Grohner Düne immer noch ab und zu Probleme mit Drogen. B. würde darum am liebsten eine arabische Bürgerwehr gründen. „Die Polizei kannst du vergessen.“ Um den Dealer, der ein Stockwerk über ihm gewohnt hat, hat er sich auf jeden Fall schon mal selbst gekümmert. Es hat ihm einfach nicht gepasst, dass in seinem Haus Drogen verkauft werden. „Die Junkies klingeln an meiner Tür, weil sie sich in der Etage versehen haben.“ Außerdem denkt er an seine Frau. „Wenn jemand Drogen braucht, ist er zu allem fähig.“ Also hat er sich mit seinem Bruder und einigen Cousins zusammengetan. B. kommt aus dem Libanon, und er hat eine ganze Menge Cousins. Die meisten von ihnen leben ebenfalls in der Grohner Düne. „Unsere Familie hat er hier vierzig Wohnungen.“ B. weiß, dass er sich auf seine Verwandten verlassen kann. „Es ist anders als mit Freunden. Wenn Blut fließt, ist eine Freundschaft schnell vorbei. Die Familie hält immer zu dir.“ Gemeinsam haben sie sich den Dealer vorgenommen, und jetzt wartet B. auf seine Verhandlung wegen Körperverletzung. Wenn er Pech, muss er für ein bis zwei Jahre ins Gefängnis. Richtig gut sieht es nicht aus für ihn. „Als die Sache passiert ist, war ich noch auf Bewährung. Aber das ist eine andere Geschichte.“

Kolja Mensing

[Donnerstag, 12. August 2004]

BEWEGUNG

Draußen ist Deutschland. Reetgedeckte Fischerhütten, ein kleiner Yachthafen, ein Restaurant mit Blick auf den Fluss. Beck’s Bier und Duckstein. Das Gelände gehört zum Hundesportverein. „Betreten auf eigene Gefahr“, der Weg über die Wiese führt zum Wehr, auf der anderen Seite ist die Strecke auf dem Deich ideal für Inline-Skater. Die Kinder tragen Fahrradhelme, sicher ist sicher, wer einen Jogger überholt, ruft vorher „von links“ oder „von rechts“, damit es keine Missverständnisse gibt. Ein bisschen Bewegung tut gut, und abends ist es hier besonders schön. In den letzten Jahren sind sogar die Fischreiher zurückgekommen. Die Fähre haben sie natürlich irgendwann abgeschafft, aber dafür ist der Radweg ein Traum. Eigentlich müsste man viel häufiger hier herausfahren. Es wird jetzt dunkel, die letzten Radfahrer beeilen sich, und vor uns steigt über den flachen Dächern und hohen Hecken die Grohner Düne auf. Sanft flackert das blaue Licht der Fernseher über die Fenster. Die letzten paar Meter führen an der Straße entlang. Dass sie hier keine Ampel aufstellen, ist ein Verbrechen, und dann sind wir wieder drinnen. Der Fahrstuhl bringt uns in den 13. Stock. Einschluss.

Kolja Mensing

[Freitag, 13. August 2004]

KINDHEIT

Sie dachte nicht gerne an ihre Kindheit zurück. Ihre Mutter und ihre Großmutter waren beide noch während des Krieges an Typhus gestorben. Ihr Vater hatte gedacht, dass seine Tochter nicht als Halbwaise aufwachsen sollte und hatte darum bald wieder geheiratet. Die Stiefmutter schlug sie mit der Hand, mit dem Stock und mit dem Schürhaken, manchmal so sehr, dass sie blutete. Damals lernte sie zu lügen, um den Prügeln wenigstens gelegentlich zu entgehen, und sie lernte auch, ihren Vater zu belügen. „Ich bin im Dunkeln gegen die Türklinke gerannt“, sagte sie, als ihr Gesicht wieder einmal überall mit blauen Flecken übersäht. Er schüttelte nur den Kopf. „Mach das nächste mal das Licht an.“ Er muss gewusst haben, wie die Stiefmutter sie behandelte, während er selbst bei der Arbeit war, aber er hat nichts gesagt.

Erst als sie in Hamburg eine Lehre als Kellnerin machte und ihren späteren Mann kennen lernte, entkam sie den Schlägen ihrer Stiefmutter. Die Probleme hörten mit der Heirat allerdings nicht auf. Ihr Mann, der lange zur See gefahren war und sich an das Leben auf dem Land nicht gewöhnen konnte, begann an zu trinken, ihr jüngster Sohn hatte mit epileptischen Anfällen zu kämpfen, und sie hatte das Gefühl, dass die Last, die sie auf ihren Schultern trug, mit jedem Jahr größer wurde. Schließlich absolvierte sie eine weitere Ausbildung und begann als Altenpflegerin zu arbeiten. Sie machte mehr Dienststunden, als sie musste und bezahlt bekam, bereitete nach Feierabend zu Hause in ihrer eigenen Küche für einige ihrer Patienten noch Essen vor, und als ihr Schwiegervater zum Pflegefall wurde, brachte sie ihn im Gästezimmer unter und fand auch für ihn noch Zeit. Zwischendurch kümmerte sie sich um die Grünanlagen der Hochhaussiedlung, in denen sich Müll und Unkraut angesammelt hatte, fegte das Treppenhaus und machte gelegentlich Einkäufe für einige ihrer Nachbarn, die selbst nicht mehr gut zu Fuß waren. „Das ist doch keine Mühe“, winkte sie ab, wenn sie sich jemand bei ihr bedanken wollte. Sie selbst nahm nie Hilfe an, und mit der Zeit spürte sie, wie die Last auf ihren Schultern immer erträglicher wurde.

Von ihrer Stiefmutter hatte sie schon lange nichts mehr gehört. Sie hatte sie nicht mehr gesehen, seit ihr Vater gestorben war, aber sie wusste, dass ihre kein Freunde geblieben waren. Eines Tages, als sie das Gefühl hatte, dass sie sich nun stark genug für ihre Rache fühlte, griff sie zum Telefon. „Du bist alt und brauchst jemanden, der sich um dich kümmert“, sagte sie zu ihr. „Ich kann dir helfen, Mutti. Das ist doch keine Mühe.“ Befriedigt registrierte sie, wie am anderen Ende der Leitung der Hörer ohne ein weiteres Wort aufgelegt wurde. Lügen hatte sie wirklich gelernt.

Kolja Mensing

[Samstag, 14. August 2004]

"Ich bin harmlos. Ich habe noch nie Scheisse gebaut."



Die Welt von Jens ist nicht größer als die Grohner Düne. Eigentlich geht er nie raus. Was sollte er auch machen. Wenn die Miete bezahlt ist, bleiben 25 Euro pro Woche. Zum Leben. Davon spart er im Monat 20 Euro für "Sachleistungen", wie er es nennt - Beamtendeutsch, denke ich, gemeint sind Schuhe oder Kleidung. Der Rest ist für Essen. Er isst nur drei mal die Woche warm. Ins Einkaufszentrum, das direkt neben der Grohner Düne liegt, geht Jens nie. Da würde er am liebsten alles kaufen, seine Augen werden groß. Jens geht zu Aldi.

Seine Zähne sind schwarz, seine Fingernägel schmutzig. Die 43 Quadratmeter von Jens Wohnung sind penibel aufgeräumt. Es gibt einen Fernseher und einen alten Computer. Den Computer hat Jens von seinem Bruder. Jens will sein Leben aufschreiben. Meistens ist der Computer aus.

Jens ist nicht krank. Das hat sein Hausarzt gesagt. "Eigentlich fehlt Ihnen nichts, eigentlich können Sie arbeiten", hat er zu Jens gesagt. Jens will arbeiten. Er will auf eigenen Beinen stehen. Jens hat noch nie auf eigenen Beinen gestanden.

Früher war da seine Mutter. Die hat ihn geschlagen und dafür gesorgt, dass Jens keine Freunde gefunden hat. Ein paar mal ist Jens von zu Hause abgehauen. Aber er hat es nie lange ohne sie ausgehalten. "Ich war abhängig von meiner Mutter", sagt Jens - Psychologendeutsch, denke ich. Vor ein paar Jahren ist die Mutter gestorben. Seitdem sorgt die Sozialbehörde dafür, dass aus Jens nichts wird. Sie hat ihn zum Rentner gemacht. Da war Jens 25.

Psychose, dieses Wort hat Jens aus einem der Bescheide der LVA herausgelesen. Er kann es kaum aussprechen, dieses Wort. Ein Wort wie ein Richterspruch, das Urteil über sein Leben. Jens wird bald 31. Sein Geburtstag ist der Todestag seiner Mutter. Nicht mal seinen Geburtstag kann er feiern.

Florian Thalhofer

[Sonntag, 15. August 2004]

INSEKTEN

Es ist Mitternacht. Ich gehe durch die leeren Straßen von Vegesack, und ich fühle mich zu Hause. Ich bin ein Kleinstadtmensch. Ich bleibe vor dem Antiquariat stehen, in dem sie Bücher, Jazz und Klassik verkaufen. Hermann Hesse, Keith Jarrett, Klaviernoten. Ich lausche auf die Stimmen, die leise aus den geöffneten Fenstern klingen, und ich spüre die vertraute Einsamkeit, die sich wie eine wärmende Decke um meine Schultern legt.

Im ersten Stock über dem Fotogeschäft klappert Geschirr, die Gäste sind gegangen, den Abwasch erledigt man besser gleich. Hier bin ich zu Hause. Ich mache einen Bogen um das gedämpfte Licht der Straßenlaternen, suche im Schatten der Hauseingänge und Seitenstraßen nach den Abenteuern, die sie uns vor langer Zeit versprochen haben. Ein Ehepaar führt ihren Hund aus, die Schritte hallen laut von den Wänden der Fußgängerzone wider und verlieren sich dann in der Dunkelheit.

So spät in der Nacht hat nur die Kneipe am Bahnhofhofsplatz noch geöffnet. Ein Bier oder ein Glas Wein, im Spiegel Zigarettenrauch und ein Blick der Barfrau. Auf den Streichholzschachteln ist eine Witzzeichnung abgebildet. Die beiden Pärchen am Tisch ganz hinten brechen auf. „Ich würde gerne zahlen.“ Auch ich mache mich auf den Heimweg. Aufgeräumte Bürgersteige, eine beleuchtete Straßenkreuzung.

Es sind nur ein paar Schritte, bis ich das bedrohliche Summen der Hochhäuser höre, die wie große Insekten vor mir in den schwarzen Himmel ragen. Ein Eingang aus Beton und Eternit, dann fegt ein kalter Hauch mir die Einsamkeit von den Schultern. So allein war ich noch nie.

Kolja Mensing

VATER UND SOHN



Auf dem Computer, auf dem wir Video schneiden und das Material für die Website sammeln, läuft ein Bildschirmschoner, der in den Verzeichnissen der Festplatte ständig nach neuen Fotos sucht und sie für ein paar Sekunden über den Monitor flackern lässt.

Gerade war eine Reihe von Bildern zu sehen, die Florian im April bei unserem ersten Besuch in der Grohner Düne gemacht hat. Eine der Aufnahmen vom Innenhof zeigt Herrn Berisha, wie er mit seinem fünfjährigen Sohn Kemal über den Hof geht. Damals kannten wir noch nicht einmal ihre Namen, und natürlich wussten wir auch noch nicht, dass die Familie Berisha, die vor zwei Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen ist, hier im 13. Stock unsere Nachbarn werden würden.

Das Foto ist ein Schnappschuss, eine Zufallsaufnahme. Jetzt, wenn es jetzt vom Computer für einen kurzen Moment aus dem Archiv geholt wird, erzählt es eine Geschichte. Seit wir vor ein paar Tagen im Wohnzimmer unserer Nachbarn gesessen haben, wissen wir, dass Vater und Sohn häufiger alleine nach unten gehen. Die Berishas sind Roma, und für sie ist der Krieg im Kosovo noch längst nicht zu Ende. Sie haben ihre Eltern und viele ihrer Verwandten verloren, sie sind brutal misshandelt und aus ihrem Dorf vertrieben worden.

Schließlich sind sie vor dem gemeinsamen Terror der Serben und Albaner nach Deutschland geflohen. Sie haben viel Zeit auf Behörden und Krankenhäusern verbracht. Frau Berisha nimmt jetzt starke Tabletten, und trotzdem wacht sie Nacht für Nacht auf, wenn sie in einem der dreizehn Stockwerke ein Geräusch hört. Sie schreit, weil sie denkt, dass sie wieder im Kosovo ist und die Soldaten über sie herfallen. Tagsüber ist sie müde, sie leidet unter Kopfschmerzen und Depressionen, oft steht sie nicht einmal auf. Dann geht Herr Berisha mit Kemal nach draußen zum Spielen.

Dass auf unserem Bild im Innenhof zu sehen sind, ist allerdings wirklich ein Zufall. Meistens gehen die beiden nämlich zu einem Spielplatz, der etwas weiter von den Hochhäusern entfernt liegt. Es ist besser für Kemal. Auch das wissen wir inzwischen: „Zigeuner“ ist das beliebteste Schimpfwort in der Grohner Düne.

Kolja Mensing

[Montag, 16. August 2004]

BADEZIMMER

Einmal im Jahr macht er die große Runde. Zwei Wochen vorher hängt er in den Hauseingängen Zettel mit dem Termin auf, und dann klingelt er an allen 527 Türen. „Guten Tag, ich komme, um die Heizkostenzähler abzulesen.“ Er hat Glück. Die meisten Bewohner der Grohner Düne haben keine Arbeit und sind ohnehin die ganze Zeit zu Hause. Ansonsten dreht er ein paar Tage später noch eine zweite Runde.

Er war schon in jeder Wohnung. Er war in plüschigen Wohnzimmern und muffigen Fluren, in verschimmelten Badezimmern und gemütlichen Küchen, und er hat gesehen, dass drei oder vier Menschen sich ein einziges Schlafzimmer teilen. Einige Mieter hat er über Jahre hinweg persönlich kennen gelernt, bei Frau Isaakson trinkt er manchmal eine Tasse Kaffee. Selbst mit dem Mann, der die beiden Kampfhunde hält, kommt er gut aus.

Eine Frau allerdings ist ihm unheimlich. Sie wohnt im ersten Stock, in einem der Blocks auf der Westseite. Wenn er bei ihr die Zählerstände kontrolliert, hat er das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben ist.

Während er mit seinem Klemmbrett durch die unaufgeräumten Zimmer geht und sich vor die staubigen Heizkörper kauert, sitzt sie schweigend und mit ausdrucklosem Gesicht am Küchentisch. Blättchen, Tabak und ein Aschenbecher liegen auf dem Küchentisch, immer in der gleichen Anordnung. Der Fußboden ist vollkommen verdreckt, die Tapeten sind gelb vom Nikotin, und die Frau, die vielleicht vierzig Jahre alt ist, vielleicht auch jünger, sagt jedes Mal nur einen einzigen Satz zu ihm: „Sie müssen entschuldigen, wie es hier aussieht. Ich ziehe bald aus.“

Am meisten irritiert ihn jedoch das Badezimmer, das im Gegensatz zur restlichen Wohnung ist nämlich geradezu penibel sauber ist. Jahr für Jahr.

Kolja Mensing

[Dienstag, 17. August 2004]

DIEBE

Malek und Adel waren da. Sie stehen in Blaumännern vor der Tür, in der Werft ist Mittagspause. Sie erkundigen sich nach unserem Projekt: „Gibt es schon Videos, die wir sehen können?“ Das Interview mit ihnen ist noch nicht geschnitten. „Wir haben ohnehin nur ein paar Minuten Zeit.“

Schweigend sehen sie sich einige Fotos auf dem Computermonitor an, Malek bietet Marlboros an. Es dauert, bis ich verstehe, warum sie gekommen sind. Sie haben ein schlechtes Gefühl. „Die Fragen, die ihr uns vor ein paar Tagen gestellt habt.... nach den Schlägereien, den Messerstechereien... ihr wollt nur eure Vorurteile bestätigt sehen.... ihr wollt die Ausländer und die Grohner Düne mit eurem Projekt in den Dreck ziehen...“

Was soll ich sagen? Dass wir keine Vorurteile haben? Dass wir allen hier die gleichen Fragen stellen? Oder soll ich ihnen die Wahrheit sagen? Die Wahrheit ist, dass man uns nicht trauen kann. Die Wahrheit ist, dass wir Diebe, Straßenräuber und Wegelagerer sind, und dass wir, wenn man uns die Gelegenheit dazu gibt, den Menschen ihre Geschichten stehlen.

Kolja Mensing

WEIL WIR MÜSSEN

(Um den Film anzusehen auf das Bild klicken)

[Mittwoch, 18. August 2004]

DER TURM

Dieses Haus ist ein Traum. Der Traum vom hohen Haus. Ein weiter Blick. Ich liebe den Wind, der durch die Wohnung weht, wenn man die Fenster öffnet.

Kleine Häuser mit spitzen Dächern haben mir immer Angst gemacht. Kurz geschorener Rasen. Eine Armee von Gartenzwergen beobachtet jede Regung. Als Kind habe ich immer davon geträumt in einem Turm zu wohnen. Frei zu sein. Von der Grohner Düne blickt man hinab auf die Häuser mit den spitzen Dächern. Der Abstand ist groß genug, um sich sicher zu fühlen.

Florian Thalhofer

NADELN

Einer der Polizisten erzählt, dass der Junkie schon längst tot sein müsste. Sie haben ihn schon mehr als zwanzig Mal mit einer Überdosis ins Krankenhaus geschafft, und er hat immer überlebt.

Auch diesmal hat er Glück gehabt. Auf der Ostseite der Siedlung, dort wo keine Kameras sind, will er sich einen Schuss setzten. Als er sich die Nadel ins Bein sticht, verfehlt er die Vene und erwischt stattdessen eine Schlagader. Im Grunde genommen hat er es richtig gemacht. Er hat sich zum Eingang der Friedrich-Klippert-Straße 20 geschleppt und ist dort zusammengebrochen. Die Kinder haben ihn gesehen und Peter verständigt, den Wachmann, der heute Dienst hat. Der steckt seine große Maglite ein, eine Taschenlampe, mit der man zur Not auch einmal zuschlagen kann.

Als er den Junkie sieht, dem das Blut aus dem Bein spritzt, droht er als erstes den Kindern Prügel an, falls sie näher kommen. „Der hat alle Krankheiten, die man haben kann.“ Dann greift er zum Telefon. Polizei, Notarzt, erste Hilfe vor Ort, anschließend wird der Mann ins Krankenhaus gefahren.

Peter muss jetzt einen Bericht schreiben. „16.30 Polizei angerufen“, steht ganz oben auf dem karierten Papier. Heute Abend wird er sich an den Computer setzen und alles noch einmal abtippen. „Viel Arbeit.“ Uwe und seine Frau kommen inzwischen mit Latexhandschuhen, einem Eimer Wasser und einem Schrubber und waschen das Blut von den Steinen. Die beiden machen sonst in der Grohner Düne die Fahrstühle sauber.

Kolja Mensing

[Donnerstag, 19. August 2004]

SEX

Kalin hat eine neue Freundin. "Es gibt Kuschel-Sex, es gibt Hardcore-Sex, es gibt Sado-Maso-Sex und für dich gibt es gar keinen Sex!" steht in ihrer letzten SMS. "Die is total verrückt!", sagt Kalin. Seine Freundin wohnt ein paar Straßen weiter. Kennengelernt haben sich die beiden im Internet. In einem Flirt-Chat. Kalin ist zwölf. "Ich hab mein Ding schon drei mal in einer drin gehabt," prahlt Kalin, und die anderen Jungen kucken mit großen Augen.

Florian Thalhofer

PAUSCHALHONORAR

Sie haben in dem Waldstück an der Weser an ihrer Höhle gebaut. Simone war damals zwölf. Zusammen mit ihren Cousinen ist sie über einen der vergitterten Metallzäune geklettert, die den Weg zum Ufer begrenzen, und als sie sich auf der anderen Seite fallen ließ, ist es passiert. Sie war mit einem Ring an einem der spitzen Streben des Zaun hängen geblieben, und als sie sich auf die Erde fallen ließ, hatte sie an der rechten Hand einen Finger weniger. „Abgerissen.“

Ibu hat den Finger im Gebüsch gefunden. Im Krankenhaus haben sie ihn wieder angenäht, aber er hat nicht lange gehalten. „Abgefault.“ Ein Jahr später hat dann das Fernsehen angerufen. RTL wollte den Fall für die Sendung „Notruf“ nachstellen. „Zuerst sind sie mit uns Essen gegangen.“ Dann wurde gedreht. Nicht an der Weser, und alles ein bisschen dramatischer als in Wirklichkeit, aber es gab Geld dafür.

Ibu durfte mitspielen, und natürlich waren Simone und ihre Cousinen auch dabei. Sie haben allerdings Pech gehabt. Familien bekommen bei „Notruf“ ein Pauschalhonorar. 1000 Euro für vier Personen. „Als Einzelpersonen hätten wir viel mehr bekommen.“

Kolja Mensing

[Freitag, 20. August 2004]

KEIN DIEB

Adel war da. Er hat sich beschwert. Kolja hatte am 17. August einen Text ins Netz gestellt. Unter der Überschrift "DIEBE" beginnt der Text mit "Malek und Adel waren da..." Adels Freunde haben den Text auch gelesen. Zumindest die ersten zwei Zeilen. Jetzt hat Adel einen neuen Spitznamen. Wenn seine Kumpels ihn sehen, rufen sie über die Straße: "Hey, Dieb, hast du mal 'n Handy für mich?"

Adel findet das nicht sehr witzig. Adel ist kein Dieb.

Florian Thalhofer

OFFIZIELL



Peter ist bei seiner Freundin rausgeflogen. Seit ein paar Tagen wohnt er in der Firma. Da gibt es eine Dusche, und von der alten Vulkan haben die so ein Ding, das ist ein Schrank, und da kann man dran ziehen, dann ist es ein Bett. Eine Mikrowelle gibt es auch und einen Wasserkocher. Seine Freundin ist Alkoholikerin. Das sagt sie selbst.

Die erste Schicht beginnt um fünf, die letzte Schicht endet um elf. Sein Chef braucht es ja nicht wissen. Und seine Kollegen wissen es auch nicht. Manchmal geht Peter nachts auch nicht in die Firma. Dann setzt er sich in die Bahn und fährt die ganze Nacht hin und her. Es gibt Schaffner, die sind nett und lassen ihn schlafen.

Offiziell ist Peter arbeitslos. Sein Chef hat gesagt, dass er ihn nicht mehr normal bezahlen kann. Jetzt bekommt Peter 12 Euro bar auf die Hand und zusätzlich das Arbeitslosengeld, demnächst sogar ein Firmen-Handy. Weil er so schwierig zu erreichen ist, in letzter Zeit.

Florian Thalhofer

[Samstag, 21. August 2004]

DIE 13TER-STOCK-HYMNE


Adel war heute im Studio. Jetzt hat Bremen-Nord einen neuen Rap-Star, und wir haben einen 13terStock-Song. Yo!

Den Song kann man hier laden:
adelstyle_13terStock.mp3

Featured by www.adelstyle.de

[Sonntag, 22. August 2004]

LANGEWEILE

Einmal hat einer eine Idee gehabt. Man hat ungefähr zwanzig Minuten Zeit, dann ist die Polizei da. Ein paar kannst du abschießen. Aber dann musst du dich verpissen. Ganz schnell verpissen. Es werden sonst einfach zu viele.

Der letzte Großeinsatz der Polizei war vor zwei Wochen. Ein Notruf. In der Grohner Düne sind Männer mit Waffen unterwegs. Zwei Gruppen die gegeneinander kämpften. Sie verfolgen sich durch die Treppenhäuser. Es dauert nicht lange, bis einer der Männer von einer Kamera erfasst wird. Dass ein Wachmann die Polizei anruft, ist Teil des Plans. Dann haben die Männer alle auf die Polizei geschossen. Die müssen kunterbunt gewesen sein, als sie wieder auf die Wache gekommen sind.

Im Wald mit Farbkugeln aufeinander schießen kann jeder. Aber in so einer Wohnanlage, das ist viel besser. Als dann aber Scharfschützen mit schwarzen Masken und Kampfausrüstung anrücken, bekommt es Christian doch mit der Angst. Die schießen scharf. Aber von Christian und seinen Kumpels haben sie keinen erwischt. Die Welt ist auch nur so ein Spiel.

Florian Thalhofer

AUSVERKAUF

180 Euro sind natürlich zu viel. Das Handy macht im Skyline einmal die Runde. Es ist ein Samsung, ziemlich zerschrammt. "Sieht nicht gut aus, spinnst du? 150 Euro, letztes Angebot." Dann ziehen die beiden Türken wieder ab. "Junkies", erklärt Pfeifer mir, als die beiden wieder abgezogen sind. "Das sieht man sofort." Eine Zeitlang diskutieren wir die Frage, ob die beiden wirklich damit rechnen, dass jemand so viel Geld für ein geklautes Telefon bezahlt, das nicht einmal gut aussieht. Wir würfeln noch eine Runde, später kommt Natascha. Sie erzählt, dass sie am Nachmittag auf dem Friedhof war und Erdbeersekt getrunken hat. "Springer Urvater hätte besser gepasst", sagt Pfeifer und Natascha lächelt. "Oder Jack Daniels." Es ist der fünfte Todestag ihres Mannes, Natascha ist höchstens dreißig.

Die Würfel werden zur Seite gelegt, Beck's, Haake Beck. Mandy ist schon vor zwei Stunden gegangen, die anderen müssen am nächsten Tag nicht arbeiten. Als ich gehen will, ist mein Handy nicht mehr da. Nokia. Vorhin lag es noch neben mir auf dem Tisch. "Die Junkies." Inzwischen habe ich die Karte sperren lassen. Wenn man hier die richtigen Leute kennt, kann man sich auf dem Hof der Grohner Düne angeblich jedes Modell bestellen. Ich denke ernsthaft darüber nach.

Kolja Mensing

[Montag, 23. August 2004]

GLÜCK

Der Mann hat eine Frau gehabt und zwei Kinder. Zwei Mädchen. Und ein Haus und einen großen Garten. Er hat ganz viel Gemüse in seinem Garten angepflanzt. Ein Haufen Arbeit war das, aber wenn er dann auf seine Tomatenstauden geschaut hat, dann wusste er: Das ist alles meins. Er hat seine Frau geliebt, und er hat seine Kinder geliebt. Wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen ist und es war schönes Wetter, dann hatte seine Frau den Grill schon klar gemacht. Und so hat er an Sommerabenden mit seiner Familie und ein paar Kollegen von der Arbeit im Garten gesessen und Würstchen gegessen und Bier getrunken. In seinem Garten, vor seinem Haus.

Das vergangene Glück ist immer das größte. Einer seiner Kollegen ist geblieben. Er wohnt jetzt an Stelle des Mannes in seinem Haus mit seiner Frau und seinen Kindern. Der neue Mann kann Kinder nicht leiden. Sie stören ihn. Er kommt aus einer reichen Familie und denkt immer nur an sein Boot, am See.

Das größte Glück ist, sagt der Mann, wenn man am Abend von der Arbeit nach Hause kommt und seine Kinder ins Bett bringt und weiß, dass sie am Morgen, wenn man aufsteht, noch da sind.

Florian Thalhofer

[Dienstag, 24. August 2004]

MEHR ALS ICH MUSS

(Um den Film anzusehen auf das Bild klicken)

[Mittwoch, 25. August 2004]

FRÜHER

Ibrahim kommt aus einem anderen Viertel. Seit er mit Suzan zusammen ist, wird er von den Jungs aus der Düne immer wieder verprügelt. Sie sehen es nicht gerne, dass jemand von außerhalb mit einem von "ihren" Mädchen zusammen ist.

Suzan ist 16. Seit sie mit Ibrahim Schluss gemacht hat, hat sie Angst, alleine nach Hause zu gehen. Ibrahim macht ihr Angst. Amir ist ein guter Freund, er begleitet sie an diesem Abend. An der Bushaltestelle treffen die drei aufeinander.

Das Messer, mit dem Ibrahim zusticht, hat er von seinem Bruder. Der hat zu ihm gesagt, dass er sich endlich wehren soll, wenn er angegriffen wird. Ibrahim wird an diesem Abend nicht angegriffen. Er sticht trotzdem zu. Einundzwanzig mal. Dass Amir überlebt, grenzt an ein Wunder.

Suzan wird von da an gemieden. Beide Seiten geben ihr die Schuld. Sie verkriecht sich zu Hause bei ihrer Mutter. Es dauert fast ein Jahr, bis sie sich wieder auf die Straße traut.

Für Amir ist es an jenem Tag bereits der zweite Kampf. Zuvor war er auf einen Freund losgegangen. Der hatte ihm das Fahrrad geklaut. Zwei Mal hat er ihm mit seinem Messer ins Bein gestochen. Amir und der Fahraddieb liegen in dieser Nacht im selben Krankenhaus.

Florian Thalhofer

[Donnerstag, 26. August 2004]

GANZ UNTEN

Beinahe wäre in der Tiefgarage ein Krieg ausgebrochen. „Dass ist mein Parkt-Plaz. Bitte lassen sie frei“, stand vor einigen Tagen auf dem Zettel, der hinter dem Scheibenwischer meines Ford Sierras steckte. Da ich den Stellplatz vom Hauswart zugewiesen bekommen hatte, dachte ich mir zunächst nichts dabei. Der nächste Zettel war schon deutlicher formuliert. „Sie schten auf Fremden Plaz. Noch Mal ich lase wagen Apschlepen“.

Mittlerweile hatte ich mein Auto auf Anraten des Hauswarts umgeparkt, nur um schließlich eine auf knallrotem Papier gedruckte „Letzte Abmahnung!“ von der Wohnungsbaugesellschaft hinter dem Scheibenwischer zu finden: „Sie parken auf einer Feuerwehrzufahrt im absoluten Halteverbot. Beim nächsten Mal werden wir unverzüglich die Polizei informieren.“ Handschriftliche Ergänzung: „Im Wiederholungsfall werden Sie abgeschleppt“ und „Bitte melden Sie sich beim Sicherheitsdienst“.

Stellplätze sind ein umkämpftes Gut in der Grohner Düne, und als mir der Hauswart heute Nachmittag – endgültig! – eine Parkbucht zuwies, erzählte er, dass es im Moment besonders eng ist. "Zu viele Autos." Außerdem fahren einige Bewohner Neuwagen, die so breit sind, dass sie nicht zwischen die Pfeiler der Tiefgarage passen.

Dass ausgerechnet in einer Siedlung, in der das Geld knapp ist und die meisten Wohnungen vom Amt bezahlt werden, besonders teure Autos gefahren werden, ist nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Ich kann auf jeden Fall verstehen, dass Sozialhilfeempfänger in schlechten Zeiten ihren Notgroschen und das bisschen Schwarzgeld lieber in ein anständiges Auto stecken, als für noch schlechtere Zeiten zu sparen. Das Sozialamt muss ja nichts davon wissen, irgendjemand findet sich immer, der einem den Wagen anmeldete.

Jetzt, da sich die Zeiten für sehr viel mehr Menschen rapide verschlechtern, wird damit allerdings Schluss sein, wie mich der Hauswart der Grohner Düne heute freundlicherweise aufklärte: „Der Wagen wird auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Da werden Sie kaum noch jemanden finden, der für Sie die Anmeldung übernimmt.“ In einigen Monaten wird es leer werden in der Tiefgarage.

Kolja Mensing

[Freitag, 27. August 2004]

HUNGER

Die meisten hier kannten ihn zumindest vom Sehen. Herr Sieke war Mitte 60, Rentner und lebte alleine in einer kleinen Wohnung im fünften Stock. Manchmal sah man ihn mit seinem Schäferhund über den Hof gehen. Eigentlich fanden ihn alle nett, aber es dauerte trotzdem einige Zeit, bis jemandem auffiel, dass etwas nicht in Ordnung war. Schließlich meldete der Besitzer vom Kiosk sich beim Hauswart. Da hatte Herr Sieke seine Zeitung schon länger nicht mehr geholt.

Einer der Wachmänner ging in den fünften Stock und klingelte. Er rechnete mit dem Schlimmsten, als sich minutenlang nichts regte, doch dann stand Herr Sieke plötzlich zitternd und mit eingefallenen Wangen in der Tür. Der Wachmann unterhielt sich kurz mit ihm, dann rief er die Ambulanz. Herr Sieke hatte offenbar bereits seit Wochen nichts mehr gegessen. „Vielleicht ein Tumor“, vermutete der Notarzt, „im Magen oder in der Speiseröhre. Man bekommt einfach nichts mehr herunter.“

Herr Sieke wurde nach Blumenthal ins Krankenhaus gebracht. Am nächsten Tag rief der Hauswart dort an, um sich nach ihm zu erkundigen. „Ich kann Sie leider nicht durchstellen“, erklärte ihm eine Schwester. „Herr Sieke ist gestern um 15.30 Uhr entlassen worden. Sind Sie ein Verwandter?“

Der Hauswart sieht alle paar Tage in der Wohnung vorbei, aber Herr Sieke ist bisher nicht wieder aufgetaucht. Seit er das Krankenhaus verlassen hat, hat ihn niemand mehr gesehen. Er ist einfach verschwunden. Der Schäferhund ist mittlerweile ins Tierheim gebracht worden.

Kolja Mensing

[Samstag, 28. August 2004]

SENDER

Jochen bittet um Diskretion. Keine Filmaufnahmen, keine Fotos. Dafür bekommen wir eine Privatvorstellung. „Setzt euch.“ Tabakkrümel und abgebrannte Streichhölzer auf dem Sofa. Im Regal stehen neben einem Band Wilhelm Busch zwei Videorecorder, der Fernseher ist von Panasonic. Zusammen mit der neuen Mikrowelle von Daewoo gehört er wahrscheinlich zu den teuersten Gegenständen in der Ein-Zimmer-Wohnung.

Die Antenne auf dem Balkon ist gleich für drei Satelliten ausgelegt, Astra, Nil-Sat und Sirius. Mit einem leicht modifizierten Receiver von Winstec – „man muss nur die richtigen Leute kennen“ – empfängt Jochen fast 2000 Programme, darunter zahlreiche Pay-TV-Programme. Kostenlos. „Das bleibt unter uns.“ Russische Nachmittagshows, ein arabischer Musiksender mit Erotik Chat, auf Euro News laufen unkommentierte Bilder aus der Imam-Ali-Moschee in Nadschaf, ein bulgarischer Sportkanal, Lesbian Weekend auf dem niederländischen Spice Premium. „24 Stunden Pornografie. Nach drei Tagen wird dir das langweilig.“

Jochen ist Mitte 40. Seit er einen Unfall beim Fallschirmspringen nur knapp überlebt hat, hängt ein Kruzifix an seiner Wand. Außerdem leidet er unter Gleichgewichtsschwankungen. Jochen lebt von 500 Euro Arbeitslosenhilfe und ein paar Jobs nebenher. Umzüge, Haushaltsentrümpelungen, harte Arbeit. „Nach so einem Tag setz ich mich Abends nicht mehr vor den Fernseher.“ Sonst schon, außer er ist gerade im „Skyline“. Sein Lieblingssender? „XXP. Spiegel TV“.

Bevor wir gehen, fragen wir ihn nach seiner Telefonnummer. Der Festnetzanschluss ist ihm schon vor einem halben Jahr gekündigt worden, die Handynummer hat er nicht im Kopf. Auch mit einem kurzen Anruf, um die Nummer zu übertragen, klappt es nicht. Die Prepaid-Karte ist leer. „Kommt einfach noch mal vorbei. Am besten abends. Da sind es noch mehr Sender.“

Kolja Mensing

[Sonntag, den 29. August 2004]

WIE DIE WELT GEMACHT WIRD

Heute war das Fernsehen da. Das Fernsehen wusste schon genau, was es wollte. Eine Reporterin hat uns gesagt, was wir machen sollen, und der Kameramann hat uns dann dabei gefilmt. So haben wir also am Eingang von unserer Wohnung gestanden und ganz erstaunt getan wegen dem Fernsehteam. Kolja hat gesagt: "Guten Tag, kommen Sie herein, so wohnen wir hier im 13. Stock." Der Tonmann hat alles aufgenommen. Aber wir mussten das ganze noch mal machen, weil beim ersten Mal irgendetwas nicht gestimmt hat.

"Wir haben es in unserer Sendung gerne spontan", hat die Reporterin zu mir gesagt. Kolja ist auf dem Balkon interviewt worden. Die Reporterin hat zwei Fragen gestellt. Was so der erste Eindruck war, als wir hier angekommen sind und so.

Wir haben uns an den Computer setzen müssen. Kolja hat so getan, als würde er einen Text fürs Internet-Tagebuch schreiben. Und ich habe so getan, als würde ich Video schneiden.

Die Reporterin hat mir auch zwei Fragen gestellt. Was unsere Message ist, wollte sie wissen. Ich habe mich bemüht, kurze Sätze zu sagen. Bloß hat es leider nicht geklappt. „Also ich fand das kryptisch“, hat der Kameramann nur gesagt. Dann hat uns das Fernsehen noch gefilmt, wie wir Frau Witt beim Fensterputzen gefilmt haben.

Und dann war das Fernsehen wieder weg.

Florian Thalhofer

STOFF

Veränderung beginnt am Rand. Wir sind jetzt seit 29 Tagen hier, und wir können nicht genug bekommen von den Geschichten aus den Hochhäusern. Gerri erzählt im Skyline vom besten Job seines Lebens, das Geld kam von den Scientologen, aber egal, Norbert ist zwanzig Jahre lang zur See gefahren und hat dann 20 000 Euro in das Restaurant seines Bruders gesteckt und nie wieder gesehen, und der alte Marokkaner, der lieber draußen im Regen steht, als mit den anderen am Tresen Streit anzufangen, erinnert sich an die Goldenen Zeiten Anfang der Achtziger. Damals ließ das kuwaitische Militär auf der Lürssen-Werft Kriegsschiffe bauen und brachte die Techniker, die zur Schulung nach Vegesack reisten, in der Grohner Düne unter. Die Videorekorder und Ledergarnituren ließen sie nachher einfach in den Wohnzimmer stehen, jeder konnte sich bedienen. Einigen Kuwaitis, die seitdem häufiger nach Bremen kommen, hat der Marokaner Eigentumswohnungen vermittelt und dabei gar keinen schlechten Schnitt gemacht. Er selbst lebt ohnehin seit einigen Jahren nicht mehr in den Hochhäusern, sondern unten am Hafen. Ob wir zufällig einen tragbaren Fernseher zu verkaufen hätte, fragt der Marokkaner noch, für den nächsten Campingurlaub, und dann geht er nach Hause. Wir stellen uns wieder im Skyline an den Tresen und lassen uns von Gerri die Fotos seiner Harley zeigen, die leider schon länger in einer Garage steht, nicht unbedingt nur ein Führerscheinproblem, aber das ist eine andere Geschichte, jede Menge Stoff war im Spiel, und das wollen wir natürlich auch noch hören, das müssen wir hören, wir sind jetzt schließlich seit 29 Tagen schon nicht mehr runtergekommen, und wahrscheinlich stimmt es nicht, dass wir einfach so aufhören könnten, selbst wenn wir es wollten. Die Grohner Düne macht süchtig.

Kolja Mensing

[Montag, 30. August 2004]

DICKKOPF

Vor über 30 Jahren ist bei Eisenach einer über die innerdeutsche Grenze getürmt. Er wäre wohl erschossen worden. Aber Uwe hatte an diesem Abend Dienst, zusammen mit einem Kameraden. Der Kamerad hatte den Flüchtling schon im Visier.

Uwe war bei der Armee zum Einzelkämpfer ausgebildet worden. Und er hatte im Bautzner Gefängnis politische Gefangene bewacht. Das Gefängnis wurde auch das gelbe Elend genannt, verglichen dazu waren die Gefängnisse in Westdeutschland die reinsten Erholungsheime. Uwe muss es wissen. Er war später selbst im Westen im Gefängnis. Eineinhalb Jahre lang. Er hatte einem Polizisten das Schlüsselbein gebrochen. Aber das war ein Versehen. Und obendrein eine ziemliche Sauerei.

An jenem Abend an der Grenze bei Eisenach hat Uwe seinem Kameraden von hinten einen leichten Stoß verpasst. Der Kamerad hat in den Himmel geschossen. Uwe hat mit einem kleinen Schubs ein Menschenleben gerettet und seiner Karriere bei der Nationalen Volksarmee der DDR ein vorzeitiges Ende bereitet. Danach ist Uwe zur See gefahren. Er wollte selber in den Westen abhauen. Natürlich hätte er es auch an der Grenze bei Eisenach probieren können. Er wusste ja, wo die Minen vergraben liegen. Naja, aber halt eben nur ungefähr.

Auf Kuba hat er seine Chance dann genutzt. Da lag der Kahn, auf dem er gefahren ist, vor Anker. Um Zucker zu holen. Uwe ist die Ankerkette hinabgeklettert, ins Wasser hinein und bei einem schwedischen Schiff die Ankerkette wieder hoch. Einzelkämpferausbildung. Dort hat er sich im Lageraum versteckt.

Später in Deutschland ist Uwe nachts auf dem Bremer Bahnhof von einem Mann angehalten worden. Der wollte Uwes Ausweis sehen. Gar nichts kannst du sehen, hat Uwe gesagt, schau, dass du mir aus dem Weg kommst! Und weil der Mann nicht aus dem Weg gegangen ist, hat ihn Uwe aus dem Weg geräumt. Der Mann war Zivilpolizist, aber da war die Schulter schon gebrochen. Einzelkämpferausbildung.

Nach dem Urteilsspruch hat Uwe im Gerichtssaal getobt. Den wenn ich erwische, wenn ich wieder raus bin, den mache ich alle!

Uwe war noch nie ein Mann der Diplomatie.

Florian Thalhofer

[Dienstag, 31. August 2004]

ABSCHIED


(Um den Film anzusehen auf das Bild klicken)

Norbert lebt seit zwei Jahren hier. Nach den ersten Tagen wollte er sofort wieder ausziehen, heute würde er die Grohner Düne gegen keinen anderen Ort der Welt mehr tauschen.

1972 gehörten Frau Galla und ihr Mann zu den ersten Bewohnern der Siedlung. Demnächst werden sie umziehen, weil ihre Rente nicht für die Miete reicht.

Für den alten Marokkaner, der den reichen Kuwaitis vor zwanzig Jahren in Vegesack Eigentumswohnungen vermittelt hat, ist die Grohner Düne der letzte Dreck. Trotzdem kommt er jeden Abend ins Skyline, zum Skat spielen.

Wenn Gökan von der Autobahn aus die helle Silhouette der Hochhäuser sieht, weiß er, dass er hier zu Hause ist. Sein Freund Adel würde niemals in den Blocks wohnen wollen, aber er kommt jeden Abend nach der Arbeit vorbei.

Frank ist in der Grohner Düne aufgewachsen, mit sieben Geschwistern in vier Zimmern. Wenn er heute auf dem Hof steht, vermisst er die Wiese, die den Pflastersteinen gewichen ist.

Vor einigen Monat hat sich im Hochhaus gegenüber ein Student aus dem Fenster gestürzt.

Nadine ist 17, und sie ist sich nicht ganz sicher, wie weit es von hier bis nach Bremen ist. Zwei Stunden, vielleicht auch länger.

Frau Adzovic wird ausziehen, wenn Christina und Jaquelina von den anderen weiter als Zigeuner beschimpft werden.

Unten im türkischen Laden gibt es schon seit mehr als einer Woche keine Milch mehr.

Vier Monate bleiben Herrn Berisha noch, um seinen Pass wiederzubesorgen, den die serbischen Soldaten beschlagnahmt haben. Dann wird er mit seiner Frau und seiner Familie in den Kosovo abgeschoben.

Jochens Großmutter hat gerade ihr Testament geändert.

Jens verlässt seine Wohnung im 13. Stock nur alle paar Tage, und neben seinem Bett steht ein japanisches Schwert, damit er sich gegen Einbrecher verteidigen kann.

Herr Sieke, der Rentner, der aus dem Krankenhaus entlassen wurde und dann spurlos verschwunden ist, ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.

Weil die Sicherheitsfirma sich mit der Hausverhaltung nicht auf einen neuen Vertrag einigen kann, arbeiten Herr Bredehorn, Peter und die anderen Wachmänner schon seit zwei Wochen nicht mehr in der Grohner Düne.

Die Kameras in den Fahrstühlen und Hauseingängen zeichnen weiter auf.

Heute um zehn Uhr fahren wir.

Kolja Mensing

Die Grohner Düne