Unwirtlich

Das Buch fürs Auge

Seit Sven Regeners hochkomischem "Herr Lehmann"-Prequel "Neue Vahr Süd" ist ruchbar, daß häßliche Bremer Hochhaussiedlungen literaturfähig sind. "Element of Crime"-Sänger Regener hat die Sozialwohnungsbausünde des Hansestadt-Ostens aus autobiographischen Gründen als Schauplatz seines Schelmenromans auserkoren. Schließlich ist er dort aufgewachsen. Der Schriftsteller Kolja Mensing kommt zwar nicht aus Bremen, sondern aus dem nahegelegenen Oldenburg (in Oldenburg). Mit traumatisch besetzter Herkunft und deren literarischer Bewältigung indes kennt auch er sich aus. Lautet der Titel seines gleichfalls hochkomischen Romandebüts aus dem Jahre 2002 doch "Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz". In seinem jüngsten Projekt war es Mensing um den Teil der Weserstadt zu tun, den Separatisten aus dem Zentrum wie auch Masochisten aus der Peripherie abfällig Bremen-Nord nennen. In einem in den siebziger Jahren errichteten Urbanisationsungetüm im Stadtteil Grohn hat Mensing mit dem Dokumentarfilmer Florian Thalhofer einen Heimatfilm der besonderen Art realisiert, der jetzt auf DVD zu haben ist. Im dreizehnten Stock eines der unwirtlichen Siedlungswolkenkratzer der so genannten Grohner Düne haben beide den Sommer des vergangenen Jahres verbracht. Und die Bewohner des wegen Drogen, Kriminalität und hoher Arbeitslosigkeit verrufenen Viertels vor laufender Kamera erzählen lassen. Traurige und lustige, erschreckende und mutmachende Geschichten haben sie zusammengetragen. Dankenswerterweise ist ihre bewundernswert komponierte DVD interaktiv konzipiert, sprich: der Zuschauer kann sich ins Leben und Leiden eines anderen Grohners klicken, wenn er es nicht mehr aushält. Eine bewegende Dokumentation; nicht nur für Bremer.

Kolja Mensing, Florian Thalhofer: [13ter Stock]. Verbrecher, Berlin. 1 DVD, ca. 15 EUR. Hendrik Werner


Artikel erschienen am Sa, 27. August 2005